Tapetenwechsel zum Co-Working-Space

von Benjamin Bakis

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Tapetenwechsel; gutes Stichwort. Daran habe ich im Sommer 2022 auch das ein oder andere Mal gedacht, damals, als wir mit Pinsel und Farbrolle vor den gelben und grünen Wänden der Pastorenwohnung standen.

Wir haben eine Idee – viel mehr einen Traum. Wir möchten die Wohnung über der Kirche für etwas Neues umgestalten: Hier soll ein Co-Working-Space entstehen.

Aber was ist eigentlich ein Co-Working-Space?

Ein Coworkingspace ist ein Ort, an dem verschiedene Leute zusammenkommen, um gemeinsam zu arbeiten. Es ist also wie eine Art Büro, das von vielen Menschen genutzt wird, die selbstständig arbeiten oder von ihrem Arbeitgeber ins Homeoffice geschickt wurden. Anstatt allein zu arbeiten, teilen sich die Leute hier einen Tisch, das Internet und guten Kaffee – und mehr braucht es ehrlicherweise für die meisten Jobs auch nicht. Co-Working-Spaces sind Begegnungsorten, in denen man Alltag teilt, Ideen austauscht und einander hilft.

Aber warum dann gerade hier, im Ober- und Dachgeschoss der Friedenskirche, der Evangelisch-methodistischen Kirche in Konstanz? Darauf gibt es zwei Antworten! Eine Gesellschaftliche und eine ganz persönliche.

Antwort Nr. 1: die Gesellschaft.

Unsere Arbeitswelt verändert sich dramatisch. Zwar ging die Zahl der Selbstständigen in den vergangenen Jahren leicht zurück, so ist aber der Trend zum Homeoffice – auch nach Corona – ungebrochen. Natürlich gibt es immer noch Geschäftsführende, wie der Trigema-Chef Wolfgang Grupp, die sich vehement gegen das Homeoffice aussprechen – die werden aber von Jahr zu Jahr weniger. In einer Stadt wie Konstanz arbeiten viele von zu Hause aus und das, obwohl ohnehin schon viele Familien sehr beengt wohnen. Das Homeoffice ist im Familienalltag für manche eine echte Herausforderung. Andere wiederum leiden unter der Einsamkeit, denn wer immer von zu Hause aus arbeitet, verlässt unter Umständen kaum noch die Wohnung. Gerade bei jungen Menschen stieg in den letzten Jahren konstant das Gefühl von Einsamkeit. Und wer sich allein fühlt, kompensiert das nicht selten mit … Arbeit. Richtig geraten – ein Teufelskreis. Aus dem „Arbeiten von zu Hause“ wird dann ganz schleichend ein „Zuhause auf der Arbeit.“ Ich wiederhole das noch mal: Aus dem „Arbeiten von zu Hause“ wird dann ganz schleichend ein „Zuhause auf der Arbeit.“

Co-Working-Spaces bieten hier eine echte Alternativ, ABER … sie rechnen sich kaum. Dort, wo es eine große Nachfrage gibt, also in den Ballungszentren, sind die Betriebskosten entsprechend hoch. Wo die Betriebskosten gering sind, also eher im ländlichen Raum, ist die Nachfrage nach geteilten Arbeitsplätzen zu schwach. Sprich: mit Co-Working-Spaces verdient man nur schwer Geld. Nicht umsonst hat WeWork, das ist der McDonalds unter den Co-Working-Spaces, letztes Jahr für einige Standorte in Nordamerika Insolvenz angemeldet. Manche meinen, dass Coworking als Geschäftsmodell nicht funktioniert. Es sei denn – und jetzt kommt der Clou – man besitzt Räume, die unter der Woche leer stehen … möglichst in zentraler Lage. Ich hoffe, ihr erahnt an dieser Stelle mein Augenzwinkern. 2021 haben Dorothea Gebauer und Jürgen Kehrer (Fußnote: mit dem ich vor vielen Jahren schon Jugendfreizeiten geleitet habe) ein Buch zum Thema Coworking und Kirche herausgegeben. Der Titel: Coworking: aufbrechen, anpacken, anders leben – Herausforderung und Chance für Gemeinden und Organisationen.

Warum also Coworking hier in Konstanz? Wir schaffen ein Angebot, was einer gesellschaftlichen Entwicklung entspricht und im Kern diakonisch ist. Dienende Beziehungsarbeit. Wir geben der Gesellschaft etwas zurück. Wir teilen unsere Räume und wuchern damit, anstelle sie zu vergraben und nur am Sonntag oder für einzelne Veranstaltungen hervorzuholen. Denn, wir können uns leere Räume schlicht nicht mehr leisten.

Warum Coworking in Konstanz? Ich habe noch eine zweite Antwort: eine persönliche.

Im Jahr 2017 war ich noch Jugendreferent für die evangelische Landeskirche hier in Konstanz. Mit der EmK hatte ich bis dahin kaum etwas zu tun, bis der damalige Pastor Volker Seybold uns im Rahmen der Allianzgebetswoche die Kirche für eine gemeinsame Aktion bereitstellte. Wir wollten ein 24/7 Gebet veranstalten, also eine Woche, in der wir wirklich rund um die Uhr gebetet haben – 24 Stunden, 7 Tage. Hierfür gestalteten wir im Gottesdienstraum Stationen, die täglich auf unterschiedliche Weise zum Gespräch mit Gott einluden.

Im Foyer der Kirche stand ein Tisch, daneben ein Buffet mit Snacks und Getränken. Im Verlauf der Woche fiel mir auf, dass immer mehr der Gäste sich vor und nach ihren Gebetszeiten um diesen Tisch herum versammelten. Es dauerte nicht lang, da packten die ersten ihre Laptops aus, um die Zeit bis zur nächsten Vorlesung oder dem Arbeitsbeginn sinnvoll zu überbrücken. Ich war irritiert, denn sollte es nicht in erster Linie ums Gebet gehen? Was zunächst aus purem Pragmatismus startete, entwickelte sich im Laufe der Woche zu einer motivierten Arbeitsgemeinschaft, die sich neben den Gebetszeiten eben um diesen einen Tisch herum versammelte.

Für mich war das ein echter Gottmoment. Ich hatte das Gefühl, dass Gott mir hier die Augen für etwas öffnete. Von Co-Working hatte ich bis dahin noch nichts gehört, aber in mir wuchs eine Idee, ein Traum heran. Ich wollte einen Ort schaffen, der den Arbeitsalltag mit geistlichem Leben füllt. Ein wenig, wie die alten Klöster und ihre Tagzeitengebete. Ora et labora. Bete und arbeite. In meiner damaligen Gemeinde bin ich mit dieser Idee leider auf wenig Gehör gestoßen und da meine Frau und ich ohnehin eine berufliche Veränderung anstrebten, zog es uns für einen Neuanfang nach Frankfurt am Main. Dort angekommen haben wir schnell gemerkt, dass wir uns in der Großstadt doch nicht so wohlfühlten, wie erhofft … und dann war da ja noch diese Pandemie. Na ja, lange Rede, kurzer Sinn: Wir benötigten wieder etwas Neues. Zufällig lerne ich Bernd Schwenkschuster kennen, der mir eine Tür zur EmK öffnet. Eins kam zum Anderen und die Frage stand im Raum, ob wir uns die Gemeindegründung in Konstanz vorstellen konnten. Ich musste nicht lange überlegen. Und genau an dieser Stelle kam mir meine alte Idee in den Sinn. Dass unser Coworkingspace heute in der alten Pastorenwohnung der EmK beheimatet ist, da, wo diese Idee, dieser Traum seinen Ursprung hatte, ist für mich ein weiterer göttlicher Wink mit dem Zaunpfahl.

Und so stehe ich also im Sommer 2022 vor den gelben und grünen Wänden der Pastorenwohnung. Wir belassen es bei der alten Tapete, also kein Tapetenwechsel, und fangen an zu streichen. Viel ist seither entstanden.

Seit dem Frühjahr 2023 sind wir am Start. Das erste Halbjahr war zäh, und schnell kamen Zweifel auf. Seit den Sommerferien aber wächst unser Netzwerk an Coworkenden stetig und so richtig erklären kann ich das auch nicht, außer vielleicht, dass es eine echte Beziehungsarbeit ist und ich versuche ein guter Gastgeber zu sein. Das Spannende: Die meisten, die hier ankommen, haben mit Kirche und Glauben relativ wenig zu tun, suchen aber einen Ort, der mehr als nur ein Arbeitsplatz ist. Und das bieten wir. Man findet auch bei uns optimale Arbeitsbedingungen. Klar! Was uns aber auszeichnet, ist, dass wir das einzige Workspace in Konstanz sind, bei dem man ungeniert seine Hausschuhe mitbringen kann. Außerdem haben wir den mit Abstand schönsten Garten. Und noch etwas anderes ist besonders: Wir haben hier im Workspace einen Raum reserviert für Stille und Kontemplation. Dem Alltag Tiefe geben – das wollen wir. Wöchentlich biete ich eine Lectio divina, also eine meditative Form des Bibellesens. Und demnächst soll es hier auch regelmäßige Taizegebete geben. Peu à peu möchten wir unser Angebot ausbauen. Ich würde euch gerne noch viel erzählen, aber das würde den Rahmen sprengen. Und ich möchte auch keinen falschen Eindruck erwecken: Es sind immer noch einige Tage, an denen ich allein hier in unserem Space sitze. Aber meine Hoffnung ist, dass unser Netzwerk weiter wächst und wir uns bis Ende 24 von aktuell 10 auf 20 Nutzer*innen wachsen. Das wäre der Hammer. Aber es geht um mehr als Zahlen: Wir bauen Beziehungen, wir investieren ins Leben der Menschen und gewinnen neues Vertrauen. Vieles läuft hier zwischen Tür und Angel. Aber Jüngerschaft geschieht im Alltag, da bin ich mir sicher. Und wie wollen wir denn missionarisch sein, wenn wir keine Schnittmengen mit Menschen haben, die mit dem Glauben nichts anfangen?

Ich möchte euch zwei praktische Tipps weitergeben:

Wisst ihr, was eine WoGeLe ist? Eine Woche gemeinsamen Lebens. Wir haben das früher regelmäßig mit dem Jugendkreis gemacht. Wie wäre es mit einer WoGeA, einer Woche gemeinsamen Arbeitens? Einfach mal als Test. Vielleicht gibt es bei euch in der Gemeinde Menschen, die im Homeoffice sitzen und gerne mal etwas Neues ausprobieren wollen. Es braucht nicht viel. WLAN, Kaffee, Tische und Gastfreundschaft. Vielleicht veranstaltet man dazu ein gemeinsames Mittagsgebet oder spricht zum Feierabend einen Segen. In der Szene spricht man bei solchen Modellen vom Pop-up-Coworking.

Oder ein ganz anderer Tipp und das geht hauptsächlich raus an meine lieben Kolleginnen und Kollegen: Geht doch selbst mal in einen Coworkingspace? Verlasst das Pastorat. Vielleicht gibt es einen Tag in der Woche, an dem ihr Verwaltung macht und E-Mails schreibt. Dann bietet sich das doch an. Oder für die Predigtvorbereitung. Wer das regelmäßig tut, wird unweigerlich Beziehungen zu Menschen knüpfen, die mit Kirche wahrscheinlich nichts zu tun haben, und ich bin mir fast sicher, dass wir mit unserem Berufsstand in jedem Co-Working-Space die Exoten sind und irgendwie auffallen.

Hier noch eine weitere Fußnote. Ein Bekannter von mir leitet ein großes Co- Working-Space im Alten Gericht in Wiesbaden. Dort arbeiten vorrangig junge Start-ups. Jüngst hat die Evangelische Kirche in Hessen-Nassau eine Stelle ausgeschrieben, verortet in diesem Workspace, als eine Art geistliche und ethische Begleitung für junge Unternehmer*innen. Das ist doch verrückt, oder? Da sind wir doch wieder beim Stichwort Tapetenwechsel und neuen Wegen. Oder mit Wesley: „Die ganze Welt ist mein Kirchspiel.“

Co-Working ist nicht für jede Gemeinde etwas und sicher auch nicht für jede und jeden Hauptamtlichen. In der Gebetswoche 2017, von der ich euch vorhin erzählt habe, ist mir eine Frage wichtig geworden, eine Frage, die für mich gewissermaßen alles ins Rollen gebracht hat. Diese möchte ich zum Schluss mit euch teilen:

Was bringt die Menschen meiner Stadt eigentlich zusammen und wie kann ich mich genau da konstruktiv einbringen?

Gnade und Friede sei mit euch.

 

Verfasser:in Benjamin Bakis

Pastor und Gründer der YChurch Konstanz & Systemischer Therapeut

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