Erzwungene Nähe schafft Distanz

von Volker Markowis

Diese Erkenntnis hat sich bei mir durchgesetzt, als ich im Büchlein Der alltägliche Charme des Glaubens von Fulbert Steffensky seinen Aufsatz Der Gottesdienst und seine Formen las. Dieser Satz begleitet mich seitdem kritisch in meinem kirchlichen Alltag.

Ich erinnere mich noch gut an die Gemeindevorstellungen in unterwegs. Gemeinden waren eingeladen, sich selbst zu porträtieren und ich war mit jeder Vorstellung einer weiteren Gemeinde zunehmend enttäuscht, wenn nicht sogar frustriert. In meiner Erinnerung (und die kann ja bekanntlich trügerisch sein) las ich überall dasselbe: Unsere Hauptveranstaltung ist der Gottesdienst und wir verstehen uns als eine Familie, die sich trägt und unterstützt. Die dort gelesene Eindimensionalität machte mir zu schaffen, genauso wie der Predigtbeginn mit „Liebe Schwestern und Brüder“. Ich möchte mich erklären:

Eine Familie ist ein sehr geschlossenes und intimes System. Zugehörig bin ich, wenn ich hineingeboren werde oder wenn ich einheirate. Familien haben eine lange Tradition, die hauptsächlich von der Ursprungsfamilie geprägt werden und oft „heilig“ sind. Werden diese Traditionen, von den Eingeheirateten in Frage gestellt, wird es oftmals konfliktreich. In Familien herrscht also große Intimität und Nähe, und die schafft Distanz.

Deshalb brauchen Gemeinden also unbedingt weitere Bilder, um sich zu beschreiben. Denn bleibt es bei diesem singulären Bild, dann beschreiben sich z.B. Gemeindeglieder die seit 10 Jahren dabei sind immer noch als „die Neuen“, dann haben wir Meinungshoheiten von Personen, die schon seit Generationen dieser Gemeinde angehören, dann verlieren wir Menschen, die uns zwar wohlgesinnt sind aber nicht eine lebenslange Beziehung eingehen möchten, und sagen zu ihnen (vorwurfsvoll): „Du hast dich hier aber auch schon lange nicht mehr blicken lassen!“

Familien haben nur einen Zweck, und zwar sich selbst. Familie bietet einen wohlvertrauten Schutzraum, können der notwendige Zufluchtsort sein. Familienmitglieder sind aber auch auf Gedeih und Verderben aneinander gebunden. Selbst wenn sich eine Person von der Familie distanziert, kommt sie nicht von ihr los. Und weil das so ist, geht es in Familien ja auch hin und wieder nicht so harmonisch zu. Wir wissen: „Der/die Andere entkommt uns ja nicht.“ Wenn wir uns also als Gemeindefamilie verstehen, entstehen auch unter uns die Tendenzen eines üblen Umgangs miteinander, eines Umgangs, den wir z.B. mit einem wichtigen Geschäftspartner nicht pflegen würden.

Erleben Menschen aber in Gemeinden, dass die Gemeinde sich nur um sich selbst dreht, wie es in Familien der Fall ist und dabei einen Umgang pflegen, den sie vielleicht von zuhause kennen, ist es nicht mehr sehr verwunderlich, wenn diese sehr schnell nicht mehr in die Gemeinde kommen. Denn das Familiendrama der eigenen Familie ist schon genug, das braucht man sich mit Menschen, die nicht zur eigenen Ursprungsfamilie gehören, nicht auch noch geben.

Ich weiß auch, dass Jesus die Beziehung zu seinen Jüngern als Familie kennzeichnet (vgl. Mt 12, 48-50). Der Unterschied dieser Kennzeichnung zur Ursprungsfamilie ist jedoch der: Jesus sammelt seine Jünger, um sie zu einem Auftrag zu befähigen. Die Familie Jesu ist also nicht zweckfrei, nur dazu da, um sich selbst zu erhalten, sondern um einen Auftrag nachzukommen. Dort wo Gemeinden sich als eine Auftragsgemeinschaft verstehen, ist auch Streit zu finden. Aber er hat eine andere Intention: Wie kommen wir unserem Auftrag am besten nach? Wie erreichen wir unsere Ziele am besten? Welche Partner brauchen wir, damit dieses Projekt ein Erfolg wird? In einer Auftragsgemeinschaft geht es nicht mehr um eine Verbindung auf Gedeih und Verderben, sondern um das gemeinsame Ziel. Und das kann von den unguten Assoziationen mit dem Familienbild und zu viel Nähe schützen.

Das Bild der Gemeinde als Familie, es kann Heimat schenken und Zugehörigkeit stiften. Das Bild vermittelt aber auch ein Höchstmaß an Nähe und wir erleben: Dort wo diese Nähe erzwungen wird, und sei es auch nur durch Bilder im Kopf und durch die Anrede „Liebe Schwestern und Brüder“, schafft sie Distanz.

Möchten wir also einen Haltungswechsel, brauchen wir neue, ergänzende Bilder für unsere Gemeinden. Das Wort Auftragsgemeinschaft lockt jetzt sicherlich auch niemand hinterm Ofen vor. Aber etwas Besseres ist mir noch nicht eingefallen. Deshalb schreibe deine Idee doch mal in die Kommentare. Ich wäre dankbar dafür.

Der Sozialphilosoph Richard Senett setzt der intimen Nähe die Geselligkeit entgegen. Enden möchte ich mit einem Zitat das zur weiteren Auseinandersetzung anregen darf: „Die Menschen sind um so geselliger, je mehr greifbare Barrieren zwischen ihnen liegen. […] Man kann es noch anders ausdrücken: Um sich gesellig zu fühlen, bedürfen die Menschen eine gewisse Distanz zu anderen. Wird der intime Kontakt gesteigert, so geht die Geselligkeit zurück.“

Richard Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt / Main 1983, S.30.

 

Verfasser:in Volker Markowis

Volker Markowis ist Pastor in der Gemeindeneugründung Heilbronn-mittendrin und studiert berufsbegleitenden Supervision. 

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