Leben ist Veränderung – Veränderung ist Leben

von Sonja Lupfer-Rieg

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Nichts bleibt, wie es ist, wir können nicht zweimal in denselben Fluss steigen. Und obwohl wir nach Konstanz streben, nach Homöostase, ist immer alles in uns und um uns in Bewegung…. Festhalten wollen wir eher dann, wenn wir uns gemütlich eingerichtet haben und alles stimmig scheint. Veränderung fordern und fördern wir dann meistens nicht freiwillig. Und wenn es nicht stimmig ist in unserem Leben, dann fehlt uns oft die gestalterische Kraft, Einfluss zu nehmen… Es ist also irgendwie vertrackt… Ich habe mal gehört, dass die größten Impulse für drastische Veränderungen im menschlichen Leben die drei „K“s seien: Krisen, Krankheiten, Katastrophen… Ereignisse oder Erlebnisse, die sich darunter subsumieren lassen, haben das Zeug, dass sie uns auf eine andere Spur bringen und am Ende oder nach einem bestimmten Zeitraum, dankbar zurückschauen lassen, dass wir NEUES gewagt haben – nicht ganz freiwillig.

Ich möchte heute über Gezeiten und den Wechsel der Gezeiten in unserem Leben sprechen und für sie werben. Ich möchte Mut machen, sie liebzugewinnen, sie nicht zu bekämpfen, sondern sie einzuladen. Zu entdecken, was sie uns zu sagen haben, was sie uns schenken an Wachstum und Entwicklung, an Reichtum und Demut, an Weisheit und Mitgefühl.

Das einzig gewisse ist der Wandel. Auch das sagt sich so leicht und wir versprechen einander in Hohen Zeiten, an Hochzeiten zum Beispiel vollmundig, in guten wie in schlechten Zeiten zueinander zu halten. Nun geht es beileibe nicht darum, die schlechten Zeiten herbeizuwünschen, damit sich das Versprechen einlösen kann. Die kommen automatisch – natürlich kann denen auch nachgeholfen werden, denn wir alle wissen, was wir tun müssten, um Beziehungen mutwillig zu zerstören, Vertrauen zu missbrauchen und Vereinbarungen zu brechen. Wenn wir umgekehrt überlegen, wird es manchmal schon mühsamer in der Umsetzung: was brauchen Beziehungen, um sie zum Blühen zu bringen, was braucht Vertrauen, damit es trägt, was brauchen wir an Verlässlichem, damit andere auf uns und unsere Vereinbarungen setzen?

Gezeiten sind wie Schaukelbewegungen. Kaum merklich wird aus der Flut die Ebbe, aus dem zunehmenden Mond, der abnehmende Mond. Die Raupe frisst sich durch allerlei Grünzeug, verpuppt sich und wird am Ende zum Schmetterling…. Die Raupe Nimmersatt. Eine schöne Geschichte von Eric Carle, mit der viele von uns sozialisiert wurden. Und sie macht Mut, Zeiten auszuhalten, die schmerzen, die sich nach Stillstand anfühlen und die doch wie in der Natur die größten Transformationsprozesse sind. Die Natur schläft im Winter nicht etwa, sondern sammelt neue Kräfte für den Frühling. Und so erlebe ich es auch in der Begleitung von Menschen in der Beratung. Manche kommen tatsächlich bei den drei großen „K´s“.  Persönliche Krisen, Todesfälle, Trennungen, Krankheiten, sonstige zwischenmenschliche, berufliche oder gesellschaftliche Katastrophen. Manche kommen tatsächlich auch, weil sie spüren, da passt etwas nicht mehr und sie wissen noch nicht, wohin die Reise gehen soll. Für alle gilt. Es hilft, erstmal bei sich anzufangen und herauszufinden:

Was denke ich über eine Situation?

Was fühle ich in einer Situation? Was spürt mein Körper?

Das „ehrliche Mitteilen“ ist eine Übung, die mit diesem Dreischritt arbeitet und sie hilft, sich und andere mehr zu verstehen und immer neu in Einklang mit sich und der Welt zu kommen.

Unser Denken ist oft voller Bewertungen und Interpretationen. Unsere Gedanken prägen uns, doch wir sind nicht unsere Gedanken. Was fühle ich in einer Situation und was spürt mein Körper? Das ist auf eine ganz andere Weise ehrlich und authentisch. Natürlich ist auch mein Spüren und Fühlen geprägt von Vorerfahrungen, die ich gemacht habe. Und es hilft, darin Übung zu haben. Meinen Körper zu verstehen, bevor etwas an ihm oder in ihm aus den Fugen gerät. Das fängt bei der Müdigkeit oder zu engen Schuhen an und hört nicht dabei auf, zu merken, wenn sich mein Körper nach Pausen sehnt, weil mein Herz-Kreislaufsystem auf Dauerstress läuft.

Unser Leben ist eine einzige Perlenkette von Erfahrungen, die wir machen und Schlüssen, die wir daraus ziehen. Wir vergleichen, was wir kennen und kennen wir uns in etwas aus, variieren wir weiter. So geht lernen. Wenn wir Erfahrungen machen, die weit jenseits dessen sind, was wir kennen und wir uns nicht zu helfen wissen oder uns niemand hilft, hat das traumatische Auswirkungen auf unser Erleben. Wir erstarren, statt zu fliehen oder zu kämpfen.

Nicht auf alles können wir uns vorbereiten und dennoch hilft es, all unsere Gefühle zu kennen und zu fühlen. Sie stehen uns zur Verfügung, weil sie uns helfen, uns zurecht zu finden, mit unseren Bedürfnissen, mit dem was andere an Bedürfnissen haben mögen, und damit wir uns immer wieder in Sicherheit bringen können. Um Kraft zu schöpfen für die Herausforderungen der Gezeiten unseres Lebens. Dies lässt sich auf vielerlei Weisen trainieren. Durch all das, was im Sinne von Achtsamkeit, den Blick nach innen und zu einem höheren Sinn lenkt. Das „erdet“ oder „himmelt“ uns und gibt uns Halt, denn niemand ist eine Insel, alleine und ohne Bezogenheit. Hier liegt unser großes Pfund als Kirche!!! Wir haben vielfältige Formen des Innehaltens und der Kurskorrektur. Es gibt auch weitere Möglichkeiten, die breite Palette der Gefühle präsent zu halten und uns mit ihnen vertraut zu machen. Manche gehen dazu ins Stadion, in Konzerte, manche in den Wald, manche ins Kino, in den Garten oder ins Yoga oder sie schauen sich Debatten oder Krimis im Fernsehen an. Eine einfache Übung hilft mir, mir meiner Gefühlspalette immer wieder gewahr zu werden und die will ich hier teilen.

Ich nenne sie Hand aufs Herz 😊 Ich nehme meine Hand zu Hilfe und lade ein, das mit mir jetzt auch zu tun:

Da ist der Daumen. Er symbolisiert die Freude, “Yippieh“, scheint er zu sagen, Daumen hoch, da ist etwas Dynamisches und im Einklang. Vielleicht unser Lieblingsgefühl. Doch er hat Geschwister!!

Da ist der Zeigefinger. Er symbolisiert den Schmerz. „Was ist los? Wo muss ich hinschauen, worum muss ich mich kümmern, wohin zeigt er?“ Wo es weh tut, da ist der Weg, da geht es lang, das will mir etwas sagen.

Da ist der Mittelfinger. Er symbolisiert die Wut. „Ihr könnt mich mal alle!“, scheint er zu schreien. „Das ist ungerecht, so geht es nicht weiter!!!!“

Da ist der Ringfinger. Er symbolisiert die Trauer. Es ist nicht mehr so, wie es mal war…. „Ich habe jemanden oder etwas verloren, ich fühle mich verlassen und allein“.

Der kleine Finger. Er symbolisiert die Angst. „Ich bin so klein, die Angst so groß - am liebsten will ich mich verstecken.“ – vielleicht ist die Angst auch ein Scheinriese, doch das lässt sich schwer sagen.

Und im Handteller ist die Scham: „Ich will mich verstecken, mach am liebsten eine Faust zur Tarnung, zum Schutz.“ Dabei gehört sie zu uns und ist Teil unserer Identität und zeigt uns, was zu schützen ist.

Schaue ich in die andere Hand ist da das Staunen. So etwa wie explosionsartig alle Gefühle gleichzeitig spüren…. Ein Wunder, etwas Unglaubliches ist passiert.

Ich lade dazu ein, dass wir uns auf die Gezeiten des Lebens einlassen, dass wir üben, in leichten Schaukelbewegungen mit dem Leben mitzuschwingen und weniger dagegen anzukämpfen.

Die Herzhaut weiten nenne ich es manchmal auch poetisch. Nach einem Gedicht von Hilde Domin:

Bitte

Wir werden eingetaucht
und mit den Wassern der Sintflut gewaschen
Wir werden durchnässt
bis auf die Herzhaut

Der Wunsch nach der Landschaft
diesseits der Tränengrenze
taugt nicht
der Wunsch den Blütenfrühling zu halten
der Wunsch verschont zu bleiben
taugt nicht

Es taugt die Bitte
dass bei Sonnenaufgang die Taube
den Zweig vom Ölbaum bringe
dass die Frucht so bunt wie die Blume sei
dass noch die Blätter der Rose am Boden
eine leuchtende Krone bilden 

und dass wir aus der Flut
dass wir aus der Löwengrube und dem feurigen Ofen
immer versehrter und immer heiler
stets von neuem
zu uns selbst
entlassen werden.
  

Ans Ende meiner Ermutigung, möchte ich zwei Verse aus Römer 8,38 -39 stellen. Sie sind mir selbst Halt und Vergewisserung in stürmischen Zeiten, in Zeiten der Ebbe und in Zeiten der Flut:

Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.

 

Verfasser:in Sonja Lupfer-Rieg

Aktiv in der Gemeinde Winnenden, 60 Jahre alt, verheiratet, drei erwachsene Söhne, Dipl. Sozialpädagogin (FH) und Systemische Therapeutin (SG), leidenschaftlich gerne in der Paar-, Familien- und Lebensberatung beim www.kdv-rmk.de tätig und berät dort Einzelne, Paare, Familien präsent, telefonisch, per Videochat oder anonym und online.

Ihr Motto ist: Erfahrungen teilen, Zeit verschenken, ansprechbar sein. Sonja ist sehr gerne draußen und in Bewegung und liebt es, Räume für Begegnungen zu schaffen.

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