Festgefahrenes verflüssigen - ein konstruktiver Ansatz

von Volker Markowis

Unsere Wirklichkeit ist mit einer Landkarte zu vergleichen, und eine Landkarte ist niemals die Landschaft.

In meinem berufsbegleitenden Studium zur Supervision habe ich den Konstruktivismus als theoretische Grundlage für beraterische Tätigkeiten kennengelernt. Neueste Erkenntnisse aus der Hirnforschung, der Erkenntnistheorie und Sozialforschung sind die Grundlagen des Konstruktivismus. Ganz vereinfacht gesagt gibt es keinen objektiven Zugriff auf die (objektive) Realität: Unsere (konstruierte) Wirklichkeit ist mit einer Landkarte zu vergleichen, und eine Landkarte ist niemals die Landschaft, sondern eine Kartierung dessen, was wir von der Realität erkannt haben. Beratendes Verhalten, mit konstruktivistischer Grundlage, zielt nicht darauf ab herauszufinden, ob eine Konstruktion der Wirklichkeit richtig oder falsch ist, sondern versucht durch Vermehrung der Information das System zu erweitern und positiv zu beeinflussen. So können starre Strukturen wieder verflüssigt werden und Veränderung stattfinden.

Aus dieser wissenschaftlichen, theoretischen Grundlage ergeben sich verschiedene Haltungen für die beratende Person. Ich denke, diese können auch uns helfen, zu einer anderen Gesprächskultur und zu einer anderen Haltung kommen. Eine, die uns und andere in Bewegung bringt und so manches Festgefahrene verflüssigt. Ich will diese Haltungen vorstellen und sie in den kirchlichen Kontext übertragen. Vielleicht dienen sie dazu, das eigene Handeln zu reflektieren:

1. Nicht-Verstehen und Nicht-Wissen (Konstruktneutralität)
Prämisse dieser Haltung ist, dass Menschen die Realität nicht allumfassend abbilden können. Deshalb ist jeder subjektiven Konstruktion von Wirklichkeit neutral zu begegnen und keine der anderen vorzuziehen. Es ist also jeder Person in gleicher Weise zuzuhören und keiner Konstruktion von Wirklichkeit der Vorrang einzuräumen. Gleichzeitig gilt die grundsätzliche Annahme, dass wir Nicht-verstehen und Nicht-Wissen wovon der andere spricht, selbst wenn uns seine Worte und sein Konstrukt vertraut vorkommen. Wir begegnen uns sozusagen als Ahnungslose, die, im oben genannten Bild der Landkarte gesprochen, Erkundungen in der Landkarte anderer Menschen machen. Ich erlebe es im kirchlichen Kontext immer wieder, dass wir sehr schnell einer Meinung sind und anscheinend ganz genau schon wissen, was der andere meint. Die Haltung des Nicht-Verstehens und des Nicht-Wissens bewahrt uns davor, zu schnell weiterzugehen, zu wissen warum der andere so reagiert, wie er reagiert, oder die Macken des anderen schon zu kennen und so weiter.

Diese Haltung fördert die Neugierde aufeinander, gerade auch in konfliktreichen Situationen (‚Ich verstehe nicht, warum dir das so wichtig ist, erklär mir das doch mal!‘) aber auch einfach so. Nehmen wir diese Haltung wichtig, werden wir und lassen andere zu ErzählerInnen werden, die anhand ihrer Lebensgeschichte und ihrer Konstruktion von Wirklichkeit erzählen dürfen, worin sie Sinn sehen, wie sie zu ihren Werten gekommen sind und was sie als Individuum ausmacht. Diese Haltung bewahrt uns auch vor dem oftmals unleidigen Kampf darum, wer denn nun recht hat, bei dem es immer wieder auch nur Verlierer gibt. Stattdessen liefert diese Haltung durch das Nachfragen wertvolle Informationen, die das Gegenüber von meinen Zuschreibungen befreit und mir erschließt warum er gehandelt hat, wie er gehandelt hat. Diese Haltung löst also Verfestigungen auf und verflüssigt.

2. Problem- und Lösungsoffenheit (Veränderungsneutralität)
Hinter dieser Haltung steckt die Erkenntnis, dass alles Vor- und Nachteile birgt. Jedes Problem birgt Nachteile, trägt aber auch Vorteile, in sich. Und jede Lösung, die ja manchmal sehr vielversprechend lockt, verursacht auch Kosten. Versuche ich ein -von mir so wahrgenommenes- Problem aus der Welt zu schaffen, sollte ich mir vorher klar machen, welcher Nutzen dabei verloren geht. (Eine kleine, sich vertraute Gemeinde, die sich radikal öffnet, gewinnt sicherlich Menschen dazu, erlebt einen Aufbruch und fühlt sich auf einmal vital (Nutzen), verliert dabei aber die Vertrautheit, die gewohnten Abläufe und die damit verbundene Sicherheit (Kosten)). Klar muss sein, dass die zu leistende Kosten-Nutzen-Rechnung stets mit Spekulation verbunden ist, weil wir weder wissen, ob der erhoffte Nutzen oder die zu erwartenden Kosten so eintreffen, wie wir sie auf Grundlage unserer Erwartungen und Erfahrungen imaginieren. Veränderungsneutralität bedeutet für mich, mich und meine Motive mit denen ich Dinge einbringen ernsthaft zu hinterfragen. Wir neigen bei Dingen die wir als Problem wahrnehmen dazu, nur die Kosten im Blick zu haben und bei den Lösungen, die wir anbieten nur den Nutzen zu sehen. Die Veränderungsneutralität führt also dazu, dass ich offen werde, dass ich meinen Vorschlag als einen unter vielen ansehen, mit ungewissem Ausgang und dass ich dazu bereit werde mich auf andere Vorschläge einzulassen, diese zu erkunden und zu erörtern um ein möglichst realistisches Bild davon zu bekommen, was uns diese oder jene Entscheidung nutzt UND kostet.

3. Gleichheitsprinzip (Beziehungsneutralität)
Dort, wo Menschen zusammenkommen entstehen naturgemäß Koalitionen. Jemand der sich der Beziehungsneutralität verpflichtet, gibt sich größte Mühe keine Sichtweise bevorzugt zu behandeln und sich zum Schiedsrichter darüber aufzuschwingen, wer Recht oder Unrecht hat. Wir müssen uns bewusst sein, wenn wir Partei ergreifen, dann werten wir die eine Position auf, die andere gleichzeitig aber auch ab. In beziehungsneutral gestalteten Systemen nimmt die Bereitschaft zur Kooperation zu. Wenn wir beziehungsneutral arbeiten, dann heißt das nicht, dass ich manche Sichtweisen nicht in Frage stellen kann, sondern es macht das eigentlich erst richtig möglich. Denn wenn alle Perspektiven gleich viel wert sind, kann ich sie gegenüberstellen, sie hinterfragen und diskutieren ohne mich der Parteilichkeit schuldig zu machen. Gerade im Streit um die richtige Sichtweise ist die Beziehungsneutralität eine Haltung, die es ermöglicht verfestige Positionen zu überwinden und allen Beteiligten den gleichen Wert zukommen zu lassen.

4. Methoden-Neutralität
So wie es nicht die eine richtige Sichtweise im systemisch-konstruktivisten Denken gibt, gibt es auch nicht die eine richtige Methode. Höchsten besser oder schlechter passende Methoden. Deshalb gilt auch hier, sich nicht auf eine Sache zu versteifen, sondern verschiedene Dinge zu erwägen. Klar, die Methoden müssen bestmöglich zu jenen passen die sie anwenden, genauso wie sie zu jenen passen müssen, für die sie angewendet werden sollen. Allein deshalb ist davon auszugehen, dass Methode A mit Menschen A in Situation B mit Menschen B nicht unbedingt passt. Es hilft, sich einen vielfältigen Methodenkoffer zu erarbeiten und offen für die Situation zu bleiben. Die Methoden-Neutralität bedeutet aber eben auch, Liebgewonnenes, was schon Jahrzehnte erprobt und erfolgreich war, auf den Prüfstand zu stellen. Methodenneutralität verlangt uns also eine Beweglichkeit im Denken und im Herzen ab, um eben eher die besseren Methoden für die Situation anzuwenden, anstatt an den vielleicht inzwischen schlechteren Methoden festzuhalten (ohne damit sagen zu wollen, dass diese gar nicht mehr funktionieren). Wer Methoden-Neutralität lebt, der verkämpft sich nicht für Liebgewonnenes, sondern ist dazu bereit neue Methoden auszuprobieren – natürlich solche, die bestmöglich für den Anwender, als auch den Empfänger passen.

Passen diese vier Haltungen der Neutralität in das Feld der Kirche? Es geht bei uns ja schon auch um Wahrheit und um eine radikale Zuwendung Gottes zu den Menschen, eine bevorzugte Option für die Armen, Schwachen, Kinder und Witwen. Natürlich haben diese Neutralitäten auch ihre Grenzen. Ich möchte mich aber trotzdem für sie stark machen in unserem Kontext. Sie helfen uns aus Schubladendenken, gewohntem Verhalten, schlechtem Umgang und Starre auszubrechen. Wir gewinnen neue Informationen, verflüssigen Festgefahrenes und nehmen das Gegenüber mehr als gewordenen Mensch wahr anstatt als Opposition, die ich versuche, entweder von meinem Standpunkt zu überzeugen oder zu unterdrücken. Wir steigern Kooperation und begeben uns gemeinsame auf die Suche nach dem besseren statt dem schlechteren Weg. Kurzum es finden Begegnungen statt, die verändern.

Und wem das alles viel zu offen und zu wenig fassbar ist, den erinnere ich gerne an den Rat des Paulus:

Prüft alles und behaltet das Gute! (1. Thess 5,21).

Das ist eine radikale Haltung die meiner Meinung nach durch die 4 Haltungen der Neutralität der system-konstruktivisten Supervision zum Tragen kommt.  

 

Verfasser:in Volker Markowis

Volker Markowis ist Pastor in der Gemeindeneugründung Heilbronn-mittendrin und studiert berufsbegleitenden Supervision. 

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Begleitpodcast - Folge 4/6

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Alles eine Frage der Perspektive