Raus aus der Blase

von Oliver Lacher

Willi ist tot. Heilig Abend hörte er die Familie über seiner Einliegerwohnung singen. Er hielt es nicht aus, fuhr in die Stadt zum Saufen. In einem Bier waren Drogen untergemischt, sie machen ihn bewusstlos. Mehrere Tage haut es ihn ganz aus der Spur. Ausgeraubt, über sich selbst angeekelt und enttäuscht, kommt er zu sich. Die Entgiftung schafft er noch. Dann nimmt ihn der letzte Herzinfarkt.

Acht Jahre früher, Nürnberg, Südstadt: Vor einer Kneipe steht ein Betrunkener. Ich spreche ihn an, er begleitet mich rein. Dem Wirt ruft er zu, ich wär sein Freund. Drinnen beginnt er zu erzählen, lange, Bruchstücke aus einer furchtbaren Biographie. Als Kleinkind ins Heim, Schläge, Essensentzug, Dunkelarrest im Stehen, Missbrauch: Alles über Jahre, alles von „Schwestern der Liebe Gottes“. Er trainiert Boxen, wird stark, wehrt sich, flieht. Straße, Gelegenheitsarbeit, Sucht, Körperverletzungen, jahrelang Knast. Ein abgerissener Zettel mit seiner Adresse wandert in meine Hosentasche.

Am nächsten Tag besuche ich ihn. Die Zeit hab ich. Düsteres Treppenhaus, 5. Stock, ich fürchte mich vor dem Ex-Athlet. Er staunt fassungslos über den Gast: „Zausel, du glaubst nicht, wer hier steht: Ein Pfaffe!“ Seine Wohnungstüre fällt hinter mir zu. Für mich Sofaplatz in der penibel geordneten Einzimmerwohnung. Ein weiterer gezeichneter Mann hängt am Tisch. Viel Alkohol und Tabakrauch wabert zwischen Wänden. Diese Begegnung verändert unser Leben.

Von Karlsruhe aus besuche ich Willi in Nürnberg. Er zeigt mir die Heilsarmee, Werkstätten, Mensa, Unterkünfte, Wärmestuben, Sozialcafés. Und Menschen aus seiner Welt. Ein Jahr später zeig ich ihm Karlsruhe, führe ihn durchs EmK-Jugendzentrum und „meine Kirche“ in Grötzingen. Endlose Gespräche. Wir entdecken Jesus neu für uns. Er nennt ihn Fritz. Die ihn als Kind und Teenager missbraucht hatten, haben zu oft den Namen Jesu im Munde geführt.

Bei Gemeindegliedern in einer kleinen Einliegerwohnung in Grötzingen findet er neue Heimat, wird dort in der EmK Hausmeister und Mitglied. Er hilft Alten im Garten, wird ihnen Freund und besucht sie bis ins Sterben in ihren Wohnstuben. Durch ihn bekomme ich Kontakte zu herrlichen Menschen, alle außerhalb der Kirche. Sie vertrauen mir wegen ihm. Wir erleben herrliche Wunder und schlimmste Tiefen. Nach zig Rückfällen kein Alkohol mehr! In der Jugendkirche kocht er für die Straßenteens. Sein Christbaumverkauf verhilft Obdachlosen in Karlsruhe zu einem Weihnachtsessen. Er organisiert alles. Heilig Abend bleibt er einsam. Dann hält er es nicht mehr aus.

Unsere gemeinsamen Jahre waren ein krasser Spurwechsel für ihn und mich. Ein Wechsel, der Wellen schlug. Z.B. für J., der von Nürnberg später nachgezogen kam und heute noch in Karlsruhe wohnt. Oder für Teens aus dem Jugendzentrum: Veränderungen sind möglich!

Spurwechsel leben von Begegnungen, die eine Tiefe erreichen, in der Vertrauen und Mut wachsen. Wir sind kein D-Zug, dem eine Weiche gestellt wird. Unser Leben ist keine Autobahn mit Wechseln auf die „Überholspur“. Um auf die passende Lebensspur zu kommen, braucht es Zeit, Reifezeit. Auch Gemeinden und Gruppen brauchen für echte Veränderung Reifezeit für Vertrauen und Mut.

1994 initiierte ich das Megacamp. Bis 2000 leitete ich es hauptverantwortlich. Das 2000er-Camp war nicht nur wegen des Dauerregens schlecht. Mein lieber Kollege Herbert Link litt als Mitarbeiter. Nach der schlimmen Woche sagte er mir, er komme wieder. Aber nur als neuer Orga-Leiter. Das Vertrauen war da. Er führte das Camp aus der Krise in eine neue, starke Phase.
Seit Jahren macht nun Philipp Züfle den Job. Spurwechsel gehören längst zum Konzept. Unterschiedlichste Menschen setzen Impulse, die ständig ausgewertet, erprobt und eingefügt werden. Vertrauen und Mut sind Motor für positive Veränderungen. 2023 waren wir 550 Leute. Eine Frau spricht mich an. In den 90ern kam sie hier zum Glauben. Sie wurde Relilehrerin, engagiert sich im Kirchengemeinderat, suchte jetzt für ihre drei Kinder ein Zeltlager: Sommertage, die das Leben ändern.

Spurwechsel in der Jugendarbeit, auch im KU (Kirchlicher Unterricht). Mit den Teenagern mitgehen, ihre Kompetenzen entdecken, rauskitzeln. Reife-Räume schaffen und sichern. Gemeinsam sich den Fragen nähern, nicht als Besserwisser, sondern als Mut-Gläubige. Mut, Gott und Menschen zu vertrauen. Mut, Gottes Vertrauen zu uns zu glauben. Mit allem Wenn und Aber und Zweifel. Das Geheimnis von JAT und dem WildenSüden?? Hier dürfen Teens sich trauen. Sie suchen und finden ihre Spur.

Spurwechsel im Alltag der EmK: Der Altbezirk Pfullingen umfasste fünf Gemeinden. Überall hing man in einer Art Blase fest, in der Begegnungen oft nur mehr vom Gleichen bedeuten. Dann sind etliche offene Arbeiten entstanden: Cafés, Frühstücke, ein Schülerbistro, Brunch für ehemals Süchtige, wertvolle Kontaktflächen, um sehr unterschiedliche Mitmenschen in und außerhalb der Kirche zu treffen. Zeit für Begegnung. Gastfreundschaft mit Leichtigkeit und Tiefe. Leben & Tod und alles dazwischen ist Thema. Hier wohnen Ohren, die hören, Herzen, die schlagen, Hände, die beten und helfen. Das Evangelium bewährt sich kräftig als köstlicher Schatz in verschiedensten Kontexten und Biografien.

Meine Frau und ich gehören zum Netzwerk Christlicher Cafés in Deutschland. Der Slogan: „Baut mehr Cafédrahlen!“ Wir besuchten den Stoffwechsel e.V. in Dresden. Statt Drogen selbstgebackener Kuchen und vor allem Zuhören. Statt lumpiger Kleidung neue Gebrauchte. Statt kein Platz ein Platz, sei es zum Essen oder auch zum Wohnen. Beseelte Räume, Christen, die Zeit investieren, um Vertrauen und Mut eine neue Chance zu geben. Der Heilige Geist lässt wachsen.

Spurwechsel bei unseren Gebäuden und Finanzen: Ist das Gemeindehaus unser Eigentum, mit unserem Geld und unserer Kraft gebaut? Spurwechsel hier heißt, den Blick zu weiten, ein Zweites mitzudenken: Das Haus gehört Gott. Er will, dass Menschen Liebe erfahren, dass Essen geteilt und Tischgemeinschaft möglich wird. Sein Wort, sein Ja zu allen hören, erleben, schmecken. Für die Vielen, besonders für die Hungrigen! Kapellen als Begegnungsstätten, als Treff-Punkte zum Leben teilen. Solche fairen Teil-Orte gibt es heute zu wenig. Sie sind rar für medienkranke Teenager, für „funktionierende“ Erwachsene genauso wie für einsame Alte.

Spurwechsel im Leiten. Die EmK krankt auch an der Engstelle „Führung“. Hauptamtliche als eierlegende Wollmilchsau funktioniert immer seltener. Die Ergebnisse dieser Epoche sind oft beschämend, nicht nur viele junge Kolleg:innen werden zerrieben zwischen versteinerten Erwartungshaltungen und nötigem Aufbruch. Wir brauchen einander! Ist es so schwierig, Ressourcen und Verantwortung fair und klug zu teilen? Die Herausforderungen sind komplex. Jede Stimme, die sich einbringen möchte, muss hochwillkommen sein. Willi und viele andere haben mich reich und weitsichtig gemacht. Wie können wir ohne die „Weisheit der Straße“ durch unsere Zeiten navigieren?

Spurwechsel hin zu verbindlichen Teams. Auf dem Bezirk Achalm haben wir Hauptamtliche uns auf ein schönes Wagnis eingelassen. Wir leiten gemeinsam. Die Verwaltungsangestellte, die Seelsorgerin, der Pastor in Probezeit, Referentin, Ordinierte: Ein Zuhören, Austauschen, Verantwortung teilen. Grundlage sind wöchentliche Treffen, Reifezeit, die passende Tiefe, ein Mit-Teilen im Glauben. Ohne Vertrauen geht nichts. Vertrauen aber steckt an und wird weit in den Bezirk hineinstrahlen und verändern.

Was braucht der Spurwechsel? Er muss gewollt sein. Sehnsucht, auch im Gebet. Dann: Zuhören, zuhören, zuhören. Lebensfreude und Jesusliebe. Zeit. Mut für erste Schritte. Ausdauer für weite Wege und Rückschläge. Taktik. Geld schadet nicht. Loslassen eigener Selbstverständlichkeiten. Begleitung.

Was passiert? Türen öffnen sich, Herausforderungen können weh tun. Konflikte lassen sich kaum vermeiden, Geld fehlt und kommt, Beten und Danken wird zum Atmen der Seele. Glaube ist alltagsrelevant, er macht den Unterschied, trotz aller Zweifel und Kleinmut. Verlässliche Teams bilden sich, ein Wachsen und Reifen. Trauen und Vertrauen säen sich aus, der Segen Gottes führt in feine Freiheit.

 

Verfasser:in Oliver Lacher

Pastor auf dem Bezirk Achalm mit den Gemeinden Erpfingen, Gomaringen, Holzelfingen, Münsingen, Pfullingen, Reutlingen und Unterhausen

Weiter
Weiter

Die Wippe