Spurenwechsel: Begegnung und die gemeinsame Suche nach Heimat

von Stephan von Twardowski

„Home“ („Heimat“ oder „Zuhause“) – so lautete im Februar 2024 das Thema eines englischsprachigen Gottesdienstes der Evangelisch-methodistischen Kirche im Raum Reutlingen. Seit Ende 2023 werden im neugegründeten Bezirk Achalm monatlich solche internationalen, englischsprachigen Gottesdienste gefeiert.

Zu Beginn des Gottesdienstes zum Thema „Home“ gab es ein Interview mit drei verschiedenen Personen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Herkunft. Die zentralen Fragen für das Interview lauteten: Was bedeutet Heimat für dich? Wo hast du dich in deinem Leben zu Hause gefühlt? Welche Bedeutung hat Heimat für deinen Glauben?

Es entwickelte sich ein bewegendes Gespräch über das eigene Zuhause, über den Verlust von Heimat, über hoffnungsvolle Aufbrüche und sogar erzwungene Flucht, über die Suche und die Sehnsucht nach Beheimatung, über ein neues Ankommen, das neue Entdecken von Heimat und über den Zusammenhang von Glauben und Heimat.

Ein älterer Mann berichtete davon wie der Weltkrieg und später auch die Teilung Deutschlands in seiner Familie mehrfach zu Flucht geführt haben. Der tragische Verlust von Heimat in Ostpreußen und später in der DDR und die Suche nach neuer Heimat prägten ihn in seiner Kindheit und Jugend. Die methodistische Kirchengemeinde, die er kennenlernte, und der Glaube selbst waren für ihn die Entdeckung einer gänzlich anderen Beheimatung. Diese Erfahrung war zwar zunächst ortsgebunden, ging jedoch weit darüber hinaus. Auf seinen vielen Reisen erlebte er später, wie auch der Besuch von Gottesdiensten und Kirchengemeinden in ihm gänzlich fremden Ländern unmittelbar die Erfahrung der Beheimatung auslösen konnte. Auf seiner Mundharmonika, die ihn bereits sein ganzes Leben begleitet, spielte er ein Lied, dass er oft zuhause als Kind mit seiner Familie gesungen hat und ihn an seine Heimat(en) erinnert.

Eine junge Frau aus Deutschland erzählte von einer prägenden Zeit als Schülerin bei einem einjährigen Auslandsaufenthalt in den USA. Schnell wurde das Zuhause der Gastfamilie, bei der sie lebte, für sie zu einer zweiten Heimat. Sie berichtete davon, wie sie Heimat dort erfährt, wo Menschen sind, die sie so annehmen wie sie ist; Menschen, bei denen sie sich nicht zu verstellen braucht. Bei Gott findet sie Heimat, weil Gott sie annimmt – so wie sie ist. Als Erinnerung an ihre verschiedenen Heimaten trägt sie neben dem Schlüssel ihres Elternhauses auch weiterhin den Schlüssel des Hauses ihrer Gastfamilie in den USA an ihrem Schlüsselbund.

Der dritte Interviewpartner war ein junger Mann aus Nigeria. Er berichtete davon, wie er 2021 voller Hoffnung und Erwartungen von zuhause aufgebrochen war, um in der Ukraine ein Studium aufzunehmen. Dann kam der 24. Februar 2022 und der umfassende, grausame Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Er entschied sich zur Flucht, und konnte nur seinen Rucksack mitnehmen, den er bereits aus Nigeria mitgebracht hatte – bepackt mit den nötigsten Dingen. Kurz darauf wurde sein Wohnheim zerbombt. Über lange Umwege und auch viele Kilometer zu Fuß gelang er schließlich nach Süddeutschland, wo er seither versucht, sich ein neues Leben aufzubauen. Eine einfache Rückkehr nach Nigeria war und ist für ihn nicht möglich. Er unterstreicht, dass Heimat für ihn zunächst dort ist, wo seine Familie ist. Darüber hinaus erlebt er in Deutschland, wie neben der Heimat der Familie auch andere Orte der Geborgenheit und der Sicherheit zur neuen Heimat werden können. Der Glaube und die Glaubensgemeinschaft der Kirche sind auch für ihn Heimat – Orte der Geborgenheit und der Sicherheit.

Einig waren sich alle drei interviewten Personen: Heimat ist nicht nur ein Ort, sondern ist von tragenden Beziehungen geprägt. Es ist daher möglich, auch mehrere Heimaten zu haben.

Was bedeutet Heimat für dich? Wo hast du dich in deinem Leben zu Hause gefühlt? Welche Bedeutung hat Heimat für deinen Glauben?

Heimat: eine persönliche und zugleich politische Angelegenheit

Heimat ist eine sehr persönliche Angelegenheit. Die Frage nach der Heimat ist eng mit der eigenen Lebensgeschichte, den eigenen Prägungen und Erfahrungen verknüpft. Und gleichzeitig ist Heimat eine sehr öffentliche Angelegenheit, ein geographisches, soziales, kulturelles und politisches Thema. Erkennbar wird dies an den wieder sehr aktuell ausgetragenen Debatten über Migration, kulturelle Vielfalt, europäische und nationalstaatliche Grenzen, Ausweisungen, Abschiebungen, Remigration und Rassismus.

[Siehe hier und im Folgenden samt Zitaten: Amélé Adamavi-Aho Ekué/Frank Mathwig/Matthias Zeindler, Heimat zwischen Sehnsucht und Gefährdung. Zur Exposition des Themas, in: Dies., Heimat(en)? Beiträge zu einer Theologie der Migration, Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2017, 11-38.]

Der Begriff „Heimat“ selbst weist auf eine problematische Geschichte und Verwendung. Oft wird „Heimat“ als ein Besitz verstanden; ein Ort, an dem am besten alles so bleibt, wie es schon immer war; ein Ort, der ein nostalgisches Heimatgefühl auslöst; ein Ort, der daher umstritten und sogar stark umkämpft ist und den es gegen Veränderung und Verfremdung zu verteidigen gilt.

Wir sehen in unserer Gesellschaft und in den globalen Herausforderungen unserer Zeit: Die Frage nach der Heimat ist höchst umstritten und führt oft zu grundlegenden und weitreichenden Konflikten. Heimat steht im Spannungsfeld zwischen Sehnsucht auf der einen und Gefährdung auf der anderen Seite. Menschen verlieren ihre Heimat durch Flucht und Migration. Viele erleben Traumata. Sie sehnen sich danach, an anderen Orten eine neue Heimat zu finden. Andere fühlen sich bedroht, weil Fremde in ihre Heimat kommen. Sie haben Angst davor, dass andere ihre Heimat verändern, übernehmen und schließlich sogar zerstören werden. Sie bauen Zäune und Mauern, entwickeln Gesetze und Vorschriften, die Menschen ausgrenzen. Menschen verteidigen ihre Heimat auf Kosten anderer. Die Angst davor, die eigene Heimat zu verlieren, führt sich selten dazu, diejenigen zu kriminalisieren, die als Fremde kommen und sich nach Beheimatung sehnen.

Die Bibel und die Kirche: Migrationsgeschichte und Heimatsuche

Ein Blick in die Bibel verrät schnell, dass Heimat, Heimatverlust und die Suche nach Heimat zentrale Themen sind. Im Alten und im Neuen Testament finden wir die Erfahrung, dass Menschen nach Heimat suchen, Heimat verlieren und Heimat neu entdecken: Adam und Eva im Paradies, das ihnen von Gott, dem Schöpfer, geschenkt wurde, erleben den Verlust von Heimat. Abraham als zentrale biblische Figur des Aufbruchs und der Suche nach Heimat wird zum Vorbild im Glauben (1. Mose 12,1-4); Mose und das Volk Israel, das die Befreiung aus der Sklaverei erlebt; die Erfahrung von Verlust und Exil; Jesus, der seine Jünger auffordert, alles hinter sich zu lassen und eine neue Heimat zu suchen; …

Zugespitzt finden wir zum Beispiel im Hebräerbrief Aussagen wie: „Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ (Hebräer 13,14). Migration und Heimat sind biblische Themen.

Jesus selbst wird heimatlos. Er geht zu den Entfremdeten. Er eröffnet diesen Menschen das Reich Gottes und verwandelt damit die Vorstellung von Gemeinschaft – von Hoffnung und Heimat. Jesus verkündigt die christliche Identität als Öffnung für das Reich Gottes – die Heimat Gottes, die noch nicht gekommen ist, sich aber bereits inmitten dieser heimatlosen Welt auftut. Sein Leiden und sein Weg an das Kreuz, den wir in dieser Passionszeit bedenken, ist der Weg in die totale Heimatlosigkeit. Aber gerade hier eröffnet Gott den neuen und befreienden Weg für uns Menschen; das Geschenk neuer und wirklicher Beheimatung.

Die Geschichte der Bibel ist eine Geschichte von Migration, Flucht, Heimatsuche, Anpassung und Widerstand. Die Bibel ist daher „Mirgantinnen und Migranten, Flüchtlingen, Staatlosen und Sans Papiers weit mehr auf den Leib und aus der Seele geschrieben, als den Sesshaften, den etablierten Bürgerinnen und Bürgern.“ (13).

Heimat, Migration und Fremdsein sind also grundlegende Themen des Glaubens und der Kirche. Christinnen und Christen sind selbst „in eine Migrationsexistenz getauft“; sie sind „ihren Lebenswelten zugleich beheimatet und heimatlos.“ (13). Die Theolog:innen Amélé Ekué, Frank Mathwig und Matthias Zeindler kommen bei ihrem Nachdenken über „Heimat“ und Kirche zu dem Schluss: „Kirche ist notwendig Migrationskirche und als solche die Heimat von beheimateten und heimatlosen Menschen, die ein gemeinsames Heimweh verbindet.“ (14).

Kirche in Begegnung: Gemeinsame Suche, hoffnungsvolle Sehnsucht und gemeinsames Finden von Heimat bei Gott

Das Schöpfungshandeln Gottes, von dem wir in der Bibel lesen, zielt darauf, „allem Geschaffenen einen Ort zu verschaffen, an dem es in Frieden, Sicherheit und Wohlergeben leben kann.“ (25). Das ist der Schalom Gottes. Das ist das Reich Gottes. Das ist, was die Bibel unter Heimat versteht.

Im Gegensatz zu den Kämpfen um Heimat in unserer Welt ist diese Heimat aber damit nicht exklusiv. Sie ist auch nicht lediglich geographisch zu verstehen und kein Privileg einiger weniger, sondern eine solche Heimat ist vielmehr Geschenk und gemeinsame, ständige Aufgabe aller.

Wenn Kirche ein Ort ist, in der miteinander diese Gabe und Aufgabe von Beheimatung von Gott empfangen wird, dann findet ein Spurenwechsel statt. Kirche begnügt sich dann nicht mehr allein mit der Kommentierung und der Positionierung zu aktuellen politischen Ereignissen. Vielmehr ist Kirche dann der Ort der Begegnung von Menschen, die sich gemeinsam auf den Weg machen; der Ort, an dem auch die beheimateten Menschen ihre Fremdheit und Verwundbarkeit erkennen. Kirche ist dann der Ort der Begegnung von Menschen, die gemeinsam hoffnungsvoll auf die Suchen gehen; für die Heimat zum gemeinsamen Hoffnungshorizont wird; die aus ihren unterschiedlichen Situationen heraus nach Beheimatung bei Gott suchen und diese für und miteinander entdecken – sowohl Menschen, die ihre Heimat verloren haben als auch Menschen, deren Heimat sich zu verändern beginnt und die neu auf Heimatsuche sind.

Eine Kirche, die von Begegnungen lebt; die sich auf Spurensuche nach Beheimatung begibt, kann neu erfahren und gemeinsam bezeugen, „was es bedeutet, aus geschenktem Leben zu existieren, das sich aus dem Ereignis am Kreuz ergibt, und [was es bedeutet,] sich selbst wie anderen Heimat zu schenken, ohne an ihr zu hängen.“ (29).

Von Gott getragene Begegnungen sind Begegnungen der Hoffnung, der gemeinsamen Sehnsucht, des Spurenwechsels, der Veränderung und der neuen gemeinsamen Beheimatung bei Gott. Diese Beheimatung steht im scharfen Gegensatz zu den Kämpfen um Heimat, die unsere Zeit so sehr prägen.

 

Verfasser:in Dr. Stephan von Twardowski

Pastor der Evangelisch-methodistischen Kirche (Norddeutsche Jährliche Konferenz) und seit 2018 Professor für Systematische Theologie und Methodismus an der Theologischen Hochschule Reutlingen (staatlich anerkannte Hochschule der Evangelisch-methodistischen Kirche).

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Kirche in Begegnung. Auf der Spur in Richtung Offenheit.

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Begleitpodcast - Folge 6/6